Tomas Dratva - Klavier
Im Nebel / 1.X.1905 - "Sonate"
Auf verwachsenem Pfade (Reihe I & II & Paralipomena)
Miniaturen
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Weiter unten folgt ein ausführlicher Text über die Klaviermusik von Leoš Janáček.
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Hier können Sie eine kurze Aufnahme hören, Es handelt sich um die letzten von Janáček vor seinem Tod geschrieben Noten:
Der goldene Ring (1928)
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Tomas Dratva
Zum Klavierwerk von Leoš Janáček
Leoš Janáček schrieb zwischen 1879 bis zu seinem Tod im Jahre 1928 zehn Kompositionen für Klavier solo, zwei konzertante Werke für solistisches Klavier und kleines Ensemble sowie fünf Kammermusikwerke für Klavier mit Violine oder Klavier mit Violoncello. Ebenfalls für Klavier mit Stimmen komponiert ist der umfangreiche Liederzyklus „Zápisník zmizelého“ („Tagebuch eines Verschollenen“). Zudem verwendete Janáček das Klavier regelmässig in Arrangements und Volksliedbearbeitungen.
Zu Janáčeks frühesten Kompositionen gehören eine Klaviersonate in Es-Dur (1879) sowie eine Violinsonate (1880). Beide Werke sind verschollen. Das erste grössere und heute erhaltene Werk für Klavier sind Variationen mit dem Titel „Zdenčiny variace“ („Zdenkas Variationen“) aus dem Jahre 1880. Mit dieser während seines Studiums in Leipzig entstandenen Komposition wollte Janáček vermutlich seinem damaligen Kompositionslehrer Leo Grill gute Stilkenntnisse und Flexibilität im Tonsatz demonstrieren. Die sieben Variationen auf ein eigenes Thema sind in unterschiedlichen Stilen gehalten, die sich im raschen Wechsel nach Mendelssohn (Var.2), Tschaikowsky (Var. 3), Liszt (Var. 4), Brahms (Var. 5), im romantisierenden Stil an „barocken Meistern“ (Var. 6) und Schumann (Var. 7) richten. Auch in den beiden Kompositionen für Violine und Klavier „Romanze“ (1879) und „Dumka“ (1880) ist die deutliche Auseinandersetzung mit den Kompositionssprachen von Brahms bzw. Čajkovskij hörbar.
Janáčeks erste Kompositionen waren also deutlich von der vorherrschenden spätromantischen Sprache der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geprägt. Dies änderte sich in den 1880er und 1890er Jahren langsam und deutlich. Janáček begann sich in dieser Zeit intensiv mit der mährischen Volksmusik und später auch mit den phonetischen, melodischen und rhythmischen Eigenheiten der tschechischen Sprache zu beschäftigen. Diese grundlegenden Auseinandersetzungen wurden ihm Quelle für seine eigene, unverkennbare kompositorische Sprache.
Für das Klavier fand Janáček erste Ansätze dieses eigenen schöpferischen Weges vor allem im rhythmischen Bereich mit den Mährischen Tänzen „Ej Danaj“, „Čeladenský“ und „Pilky“ (1892/1904). Im Zusammenhang mit der Uraufführung seiner Oper „Její pastorkyňa“ („Jenufa“) im Jahre 1904 in Brno beschäftigte sich Janáček mit vielen Klavierarrangements und Klavierauszügen seiner eigenen Opernkompositionen. Diese Arbeit hatte einen deutlichen Einfluss auf seine kompositorische Sprache in der Klaviermusik und in der Kammermusik mit Klavier. {tip title="Footnote1" content="„Ej Danaj“ ist beispielsweise direkt verwandt mit der Rekrutenszene in der Oper „Její pastorkyňa“ („Jenufa“)"} (1) {/tip}
Im Zeitraum 1900-1912 komponierte Janáček seine drei grossen Werke für Klavier solo: die Sammlung „Po zarostlém chodníčku“ („Auf verwachsenem Pfade“), die Sonate „I.X.1905“ und den Klavierzyklus „V mlhách“ („Im Nebel“). 1908 schrieb er zudem die Komposition „Pohádka“ („Märchen“) für Violoncello und Klavier und ein „Klaviertrio“, welches allerdings in der gültigen Fassung erst in seinem „1. Streichquartett“ („Kreutzer-Sonate“) aufging. Die ursprüngliche Klaviertriofassung ist heute verschollen und nur dank einer Rekonstruktion von Miloš Štědroň seit 1990 verfügbar.
Auch in den letzten Jahren seines Schaffens wendete sich Janáček dem Klavier immer wieder zu. 1914-1915 entstand die „Sonate für Violine und Klavier“ (1914-1915), der Liederzyklus „Zápisník zmizelého“ („Tagebuch eines Verschollenen“) von 1917 bis 1919 sowie die beiden Werke für solistisches Klavier und kleines Ensemble, nämlich das „Concertino“ für Klavier solo und 2 Violinen, Viola, Horn, Klarinette und Fagott und das „Capriccio“ für Klavier solo für linke Hand und Blechbläserensemble, letzteres geschrieben für den einarmigen Pianisten Otakar Hollmann.
Janáček blieb dem Klavier ein Leben lang treu {tip title="Footnote 2" content="Der Organist und Chorleiter Janáček komponierte immer am Klavier, dieses Instrument war ihm in allen Facetten vertraut und diente ihm sein Leben lang als kreative Inspirationsquelle."} (2) {/tip} : Seine allerletzte vollendete und veröffentlichte Komposition ist das Klavierstück „Vzpominka“ („Erinnerung“) aus dem Jahre 1928.
„Po zarostlém chodníčku“ („Auf verwachsenem Pfade“)
Die Entstehung dieser Sammlung von insgesamt 15 Klavierstücken ist komplex und zieht sich insgesamt über mehr als zehn Jahre hinweg. Von den Werken der Reihe I existieren keine Originalhandschriften mehr. Als Quellen dienen verschiedene autorisierte Abschriften von diversen Kopisten, die Erstveröffentlichung von 1911 (Verlag der Buchhandlung A. Píša) und im Besonderen die zweite Edition von 1925 (Umělecká Beseda, Praha). Bei beiden Editionen war Janáček selber beteiligt. Von den insgesamt fünf Kompositionen der Reihe II und der „Paralipomena“ wurde zu Lebzeiten von Janáček nur die Nummer 1 (Andante) veröffentlicht. Jiři Zahrádka erläutert die Entstehung und Quellenlage aller 15 Werke im Detail. {tip title="Footnote 3" content="Jiři Zahrádka, Vorwort zur Edition „Po zarostlém chodníčku“ (Auf verwachsenem Pfade), Bärenreiter Praha, 2006"} (3) Text{/tip}
Wie viel dieser poetische Klavierzyklus ihm bedeutete, beschreibt Janáček in einem Brief an den Freund und Herausgeber Jan Branberger (datiert am 6. Juni 1908). Zusätzlich zu den erklärenden Zeilen in diesem Brief skizziert Janáček auch einige Themenmotive auf die von rascher Hand hingeworfenen Notenzeilen:
„Geehrter Freund! Danke für Ihre Nachricht. In den kleinen Kompositionen „Auf verwachsenem Pfade“ sind längst vergangene Erinnerungen enthalten. Sie sind mir so lieb, dass ich sie wohl nie vergessen werde.
Zu einigen Dingen kann ich Ihnen Konkreteres sagen:
Die Friedeker Mutter Gottes: [...] Eine weit entfernt stattfindende Prozession singt dieses Motiv [...]
[Es stockt das Wort!]
Ein anderes: Eine Ausflugsgesellschaft kehrt spät zurück. Aus ihrem langen Lied sticht ein kurzes kleines Motiv weiblichen Geplappers hervor.
[Gute Nacht!]
Sie werden wahrscheinlich deutlich die Abschiedsstimmung in diesem Stück erkennen ppp espressivo, dazu passen die Worte „Dobrou noc“.
...in der letzten Nummer [Das Käuzchen ist nicht fortgeflogen] ertönt das Unheil verkündende Motiv des Käuzchens inmitten des Vertrauen schenkenden Liedes vom Leben.
Spüren Sie das Weinen in der vorletzen Nummer [V pláči (In Tränen)] ? Eine Vorahnung des sicheren Todes. In den heissen Sommernächten war das engelsgleiche Wesen zu Tode betrübt.{tip title="Footnote 4" content="Janáček meint hier seine Tochter Olga, welche am 26. Februar 1903 verstorben war."} (4) {/tip} Seit dieser Zeit fuhr ich nicht mehr nur zum Vergnügen nach Hukvaldy.{tip title="Footnote 5" content="In seinem Geburtsort Hukvaldy im Osten Mähren besass Janáček ein Haus, welches er regelmässig besuchte. Heute ist es ein kleines Janáček - Museum."} (5) {/tip}
Wenn ich mich in einer ruhigen Minute all diesen Erinnerungen hingeben kann, dann fällt mir ein weiteres Stück ein. Es befindet sich auf verwachsenem Pfade. Auch dort gibt es ein Liebeslied [Ein verwehtes Blatt - Anfangsmelodie].
Darin erscheint auch Verbitterung und Enttäuschung [Es stockt das Wort - Eingangsmotiv] und auch ein endgültig weggelegter Brief [Kommt mit! - Schlussphrase - ].
[...]
Insgesamt befindet sich unbeschreibliches Leid hinter diesen Worten. Genügt Ihnen das? Ihr ergebener Leoš Janáček.“ {tip title="Footnote 6" content="Mit geringfügigen eigenen Übersetzungsänderungen zitiert nach Jiři Zahrádka aus dem Vorwort der Urtext Ausgabe „Po zarostlém chodníčku“ („Auf verwachsenem Pfade“), Bärenreiter, 2006"} (6) {/tip}
Während Janáček in seinen Opern und Orchesterwerken die grossen Fragen der Gesellschaft stellte und Themen wie soziale Gerechtigkeit, Frauenemanzipation, Humanität, Natur, Nation, Panslawismus, Lebenssinn und Freiheit verarbeitete, widmete er sich in seinen kleinen Klavierstücken ganz der inneren Welt, dem introvertierten Raum von intimen Gefühlen und Erinnerungen.
1.X.1905 - Sonáta
Eine Ausnahme bildet in dieser Hinsicht seine Komposition „1.X.1905 – Sonáta“ („1.X.1905 – Sonate“), welche direkt als Reaktion auf einen dramatischen, politischen Anlass entstand: am 1. Oktober 1905 starb der Arbeiter František Pavlík bei Demonstrationen für eine tschechische Universität durch den Einsatz der städtischen Gendarmerie und einer österreichischen Regimentsgruppe. Brno (Brünn) war um 1900 Teil der Österreichisch-Ungarischen Monarchie und eine mehrheitlich deutschsprachige Stadt (63%). Gegenstand der Auseinandersetzung war eine Kundgebung für die Gründung einer tschechisch-sprachigen Universität in Brno. Dieses Ansinnen wurde von Österreich und den deutschsprachigen politischen Parteien in Böhmen und Mähren bekämpft.
Die Sonatenkomposition trug ursprünglich den Titel: „Z ulice dne 1. října 1905“ („Von der Strasse am 1. Oktober 1905“) und wurde von Janáček im Januar 1906 mit ursprünglich drei Sätzen beendet. Die Pianstin Ludmila Tučková erhielt eine Abschrift und spielte das Werk am 27.1.1906, allerdings nur in einer Fassung mit zwei Sätzen - Janáček hatte während einer Vorprobe kurzerhand Tučkovás Kopie des heute unbekannten dritten Satzes - ein „Trauermarsch“ - aus Unzufriedenheit ins Kaminfeuer geworfen. Später warf Janáček sein eigenes Manuskriptexemplar in die Moldau, es hielt seiner harten Eigenkritik nach einem Hauskonzert in Prag nicht stand. Eine Zerstörung, die der Komponist bereute: „Die Handschrift warf ich in die Moldau. Das Ganze wollte und wollte nicht untergehen aber die Strömung trieb es fort.“{tip title="Footnote 7" content="Hierbei handelt es sich um ein Zitat Janáčeks, welches Max Brod im Werkverzeichnis festhält. In einem Zeitungsartikel vom 2. Oktober 1924 wird Janáček zitiert mit den Worten: „Und es [das Manuskript] schwamm damals auf dem Wasser wie weisse Schwäne.“ Zitiert nach Jiři Zahrádka im Vorwort der Urtext Ausgabe „I.X.1905 “, Bärenreiter, 2005"} (7) {/tip}
Heute bleiben uns lediglich die Abschriften, welche im Besitz der Pianistin Tučková geblieben waren (selbstredend ohne den in der Hauptprobe verbrannten 3. Satz). Tučková wies Janáček zum Anlass seines 70. Geburtstags im Jahre 1924 auf die Existenz dieser Abschrift hin. Janáček nahm das Werk wohlwollend in seine Werkliste auf, im gleichen Jahr wurde es wiederaufgeführt und als zweisätziges Werk verlegt. In dieser Erstausgabe stellte Janáček dem Werk folgende Worte als Motto voran:
Bilý mramor schodište
Besedního domu v Brnĕ –
Klesá tu zbrocen krví
prostý dĕlník František Pavlík –
Přišel jen horovat za vysoké učení –
a byl ubit surovými vrahy.
(Der weisse Marmor der Treppen
in der Beseda in Brünn –
Von Blut überströmt sinkt hier nieder
der einfache Arbeiter František Pavlík –
Er kam nur, um sich für die Hochschulbildung zu begeistern,
von brutalen Mördern wurde er erschlagen.) {tip title="Footnote 8" content="Mit geringfügigen eigenen Übersetzungsänderungen zitiert nach Jiři Zahrádka im Vorwort der Urtext Ausgabe „I.X.1905“, Bärenreiter, 2005"} (8) {/tip}
„V Mlhách“ – („Im Nebel“)
Zwar wurde der heute bekannteste Klavierzyklus Janáčeks kurze Zeit nach seiner Vollendung von der jungen Pianistin Marie Dvořáková mit Erfolg sowohl in Kroměřiž, Brno als auch in Olomouc zum Jahreswechsel 1913/1914 aufgeführt {tip title="Footnote 9" content="...eine für Prag vorgesehene Premiere wurde allerdings abgesagt."} (9) {/tip}, doch gingen die vier Klavierstücke in der Öffentlichkeit für einige Jahre in Vergessenheit und blieben nur den Kennern bekannt. Max Brod schreibt in einer Postkarte 1917 an Janáček: „Ihre Komposition v mlhách ist herrlich, ich spiele sie täglich!“ {tip title="Footnote 10" content="zitiert nach Jiři Zahrádka, Urtext Ausgabe „Im Nebel“, Vorwort, Bärenreiter, 2005"} (10) {/tip}
1922 spielte sie der Pianist Václav Štěpán in Prag in einem Rezital beim Verein für zeitgenössische Musik (Spolek pre soudobu hudbu) sowie einige Monate später in Berlin. Štěpán war es auch, der sich 1924 in enger Zusammenarbeit mit Janáček um die Erstausgabe des Werkes beim Verlag Hudební matice kümmerte. Diese vom Komponisten gelobte Ausgabe dient bis heute als wichtigste Quelle für heutige Editionen. Originalmanuskripte sind nur vom ersten und vierten Stück erhalten, dabei handelt es sich um die so genannte zweite Manuskriptfassung.
Die genaue Lektüre dieser beiden erhaltenen Manuskripte gibt Eindruck in die Schaffensprozesse von Janáček. Die musikalischen Ideen wirken auf den für Janáček so typischen kleinen, von Hand selbst linierten Kompositionsblättern wie rasch hingeworfen. Als Beispiel möge das zweite Thema (poco mosso) im ersten Stück dienen. In dieser Manuskriptfassung wird dieses Thema sowohl im ruhigen als auch im schnellen Tempo (Abb.1) in der linken Hand von kurzen, synkopischen Figuren begleitet. In einer späteren Fassung verändert Janáček diese Begleitfigur zu stetig fliessenden, durchgehenden Achteltriolen (Abb.2). Gleichzeitig expandiert er die Ketten auch in die hohen Register der Klaviatur. Die ursprüngliche, synkopische Idee bleibt jedoch in veränderter Form bestehen: Der Anfang der Triolenkette beginnt nach einer Achtelpause deutlich als Synkope. Die klangliche und pianistische Wirkung des Höhepunktes verdichtet und intensiviert sich dadurch sehr. Die Passage erhält in der Endfassung eine beeindruckende konzertante Grösse ohne dabei ihre vorgesehene rhythmische Unruhe zu verlieren.
Abbildung 1: Leoš Janáček, V mlhách, (I. Andante) - Ausschnitt aus der zweiten Manuskriptassung (A. 23525). Mit freundlicher Genehmigung des Janáček-Archivs, Abteilung für
Musikgeschichte, Mährisches Landesmuseum, Brno
Abbildung 2: Leoš Janáček, V mlhách, (I. Andante) - Ausschnitt aus den autorisierten Abschriften (A. 23494) mit handschriftlichen Korrekturen des Komponisten. Diese Abschriften
wurden für die Erstausgabe verwendet. Mit freundlicher Genehmigung des Janáček-Archivs, Abteilung für Musikgeschichte, Mährisches Landesmuseum, Brno
Im vierten Stück (Presto) lassen sich im Vergleich der Endversion mit den frühreren Fassungen ebenfalls ausschlaggebende Korrekturen Janáčeks in rhythmischen Aspekten entdecken. Besonders ausgeprägt ist dies im Kopfthema der Komposition zu beobachten. Während Janáček in der zweiten Manuskriptfassung (Abb. 3) das Motiv in einem geraden 2/4-Takt relativ ruhig niederschreibt und nur mit dem 1/8 Takt-Einschub am Schluss der ersten Phrase ein unruhiges Element hinzufügt, sind in der autorisierten Abschrift (Abb. 4) die ausgeprägten Rubato-Merkmale dieses charakteristischen Hauptthemas schon deutlich erkennbar: accelerando und ritardando sind hier deutlich vermerkt, nun alles in einem raschen Presto mit klarer Angabe der Metronomzahl. In der gedruckten und bis heute verwendeten Endfassung wird aus diesem ersten Takt gar ein 5/4 Takt, die letzten vier Noten des ersten Taktes sind nicht mehr als Achtelnoten sondern als Sechzehntelnoten notiert. Dieses auskomponierte Accelerando intensiviert das ohnehin schon notierte accelerando molto noch zusätzlich. Zu Beginn fügt Janáček nun den Begriff sostenuto hinzu, das Ritardando am Ende der ersten Phrase hingegen streicht er ganz: Das meno mosso wird somit ein meno mosso subito, ein plötzlicher Tempowechsel ohne Ankündigung. Janáček gelingt mit dieser rhythmischen Ausgestaltung eine Notation, welche den Interpreten die agogisch komplexe erste Phrase in aller Deutlichkeit erklärt.
Abb. 3: Leoš Janáček, V mlhách, (IV. Presto) - Ausschnitt aus der zweiten Manuskripfassung (A. 23.525). Notation im 2/4 Takt, Tempoangabe Allegro, der kurze 1/8 Takt Einschub als einzige Unregelmässigkeit. Mit freundlicher Genehmigung des Janáček-Archivs, Abteilung für Musikgeschichte Mährisches Landesmuseum, Brno
Abb. 4 Leoš Janáček, V mlhách, (IV. Presto) - Ausschnitt aus den autorisierten Abschriften (A.23494) mit handschriftlichen Korrekturen des Komponisten. Diese Abschriften wurden für die Erstausgabe verwendet. Mit freundlicher Genehemigung des Janáček-Archivs, Abteilung für Musikgeschichte, Mährisches Landesmuseum, Brno
Abb. 5 : Leoš Janáček, V mlhách, (IV. Presto): heute bekannte Endfassung (digitale Abschrift © PIANOVERSAL)
Miniaturen für Klavier
Die letzte Klavierkomposition Janáčeks ist das Werk „Vzpomínka“ („Erinnerung“), welche im Auftrag der Zeitschrift MUZIKA in Belgrad für ein Supplement mit Musik von tschechoslowakischen Komponisten entstand. Neben Leoš Janáček wurden hier namentlich Vilém Petržalka, Josef Bohuslav Foerster, Karel Boleslav Jirák, Alois Hába und Emil Axman portaitiert. Die kurze, bewegte und von vielen Terzmotiven geprägte Komposition widmete Janáček dem Auftraggeber M. Milojevič, Beograd.
Vor allem in späteren Jahren schrieb Janáček verschiedene Skizzen und Miniaturen für Klavier solo. Dabei handelte es sich zumeist um Tagebucheintragungen im so genannten Intimen Tagebuch {tip title="Footnote 11" content="Leoš Janáček / Album für Kamila Stösslova, Hrsg. von Jarmila Procházková, Brno, 1994"} (11) {/tip} oder um Feuilleton-Beiträge vor allem für die Tageszeitung Lidové Noviny. Unter dem Titel „Klavierminiaturen – Heft 1 - Intime Skizzen“{tip title="Footnote 12" content="„Klavírní Miniatury - Sešit I - Intimní skici“ („Klavierminiaturen – Heft I - Intime Skizzen“). Edition Moravia/Universal Edition UE 30191, Brno 1994, Hrsg. Jaromír Dlouhý und Reinhold Kubik"} (12) {/tip} liegt seit 1994 eine edierte Sammlung verschiedener kleiner Klavierstücke vor.
Die Komposition „Malostranský palác“ („Malostranský-Palais“) wurde am 16. Januar 1927 in Lidové Noviny publiziert und trägt unter dem Titel den Zusatz: „Spaziergänge am 5., 6., 7. Januar 1927“. Die mit „Melodie“ bezeichnete kurze Skizze wurde 1923 ebenfalls als Faksimile der Handschrift in Lidové Noviny publiziert. „Jen slepý osud?“ („Nur blindes Schicksal ?“) ist ein Tagebucheintrag, datiert mit „Písek, 11.12.1927“. Das in dieser Gruppe von kleinen Stücken am schwierigsten zu entziffernde Manuskript ist ein unbetiteltes Skizzenblatt, welches hier als „Ohne Titel“ aufgeführt wird. Dieses Notat kann weder datiert noch insbesondere im rhythmischen Bereich eindeutig gelesen werden. Doch auch in diesen wenigen Takten ist die musikalische Sprache Janáčeks sofort zu erkennen an ihrem melodischen Duktus und an den rhythmisch komprimierten Einwürfen der Oktaven. Bei „Zlatý kroužek“ („Der goldene Ring“) dürfte es sich um den allerletzten Noteneintrag Janáčeks am Ende seines Lebens handeln. Die zwei Notenzeilen sind in seinem Tagebuch mit dem 7. und 8. August 1928 datiert, also nur vier Tage vor seinem Tod. Diese erfüllt und lebensfroh klingenden, ja fast euphorischen sieben Takte sind Janáčeks letzte überlieferte musikalische Gedanken.
„Ukolébavka“ („Wiegenlied“) wurde 1920 im Buch „Kníha Komenského“ („Das Buch des Comenius“) in Brno publiziert, und zwar im Kapitel „Informatorium školy matěrské“ („Informatorium des Kindergartens“), ursprünglich handelt es sich um ein Text von 1632 des mährischen Theologen und Pädagogen Jan Amos Komenský (genannt Comenius) (1592-1670). „Narodil se Kristus Pán“ („Geboren ist Herr Jesus Christ“) wurde am 24. Dezember 1909 in Lidové Noviny publiziert und ist eine Bearbeitung des wohl bekanntesten gleichnamigen tschechischen Weihnachtsliedes.
Addendum
In seinem Wohnhaus in Brno steht bis heute Janáčeks Flügel, ein Konzertmodell der Marke Ehrbar aus dem Jahre 1876. Gleich neben dem Museum befindet sich das Janáček-Archiv in der Musiksammlung des Mährischen Landesmuseums („Moravské zemské muzeum“), wo sich die wichtigsten Teile von Janáčeks Nachlass befinden. Alles in allem ein idealer Ort um sich auf eine Aufnahme der wichtigsten Klavierwerke von Janáček vorzubereiten...
Tomas Dratva
Tomas Dratva bedankt sich beim Team des Janáček-Archivs, Abteilung für Musikgeschichte, Mährisches Landesmuseum Brno für die wertvolle und freundliche Unterstützung.
©℗ 2017 PIANOVERSAL
Abb. 6: Janáčeks Wohnhaus in Brno - heute eine Gedenkstätte und Museum
Abb. 7: Tomas Dratva beim Studium von Janáčeks Originaldokumenten. Brno, 29. September 2016
Janáček-Archiv, Abteilung für Musikgeschichte, Mährisches Landesmuseum, Brno
Abb. 8: Tomas Dratva an Janáčeks Flügel der Marke Ehrbar, Konzertmodell aus dem Jahr 1876.
Fussnoten:
1 „Ej Danaj“ ist beispielsweise direkt verwandt mit der Rekrutenszene in der Oper „Její pastorkyňa“ („Jenufa“)
2 Der Organist und Chorleiter Janáček komponierte immer am Klavier, dieses Instrument war ihm in allen Facetten vertraut und diente ihm sein Leben lang als kreative Inspirationsquelle.
3 Jiři Zahrádka, Vorwort zur Edition „Po zarostlém chodníčku“ (Auf verwachsenem Pfade), Bärenreiter Praha, 2006
4 Janáček meint hier seine Tochter Olga, welche am 26. Februar 1903 verstorben war.
5 In seinem Geburtsort Hukvaldy im Osten Mähren besass Janáček ein Haus, welches er regelmässig besuchte. Heute ist es ein kleines Janáček - Museum.
6 Mit geringfügigen eigenen Übersetzungsänderungen zitiert nach Jiři Zahrádka aus dem Vorwort der Urtext Ausgabe „Po zarostlém chodníčku“ („Auf verwachsenem Pfade“), Bärenreiter, 2006
7 Hierbei handelt es sich um ein Zitat Janáčeks, welches Max Brod im Werkverzeichnis festhält. In einem Zeitungsartikel vom 2. Oktober 1924 wird Janáček zitiert mit den Worten: „Und es [das Manuskript] schwamm damals auf dem Wasser wie weisse Schwäne.“ Zitiert nach Jiři Zahrádka im Vorwort der Urtext Ausgabe „I.X.1905 “, Bärenreiter, 2005
8 mit geringfügigen eigenen Übersetzungsänderungen zitiert nach Jiři Zahrádka im Vorwort der Urtext Ausgabe „I.X.1905“, Bärenreiter, 2005
9 ...eine für Prag vorgesehene Premiere wurde allerdings abgesagt.
10 zitiert nach Jiři Zahrádka, Urtext Ausgabe „Im Nebel“, Vorwort, Bärenreiter, 2005
11 Leoš Janáček / Album für Kamila Stösslova, Hrsg. von Jarmila Procházková, Brno, 1994
12 „Klavírní Miniatury - Sešit I - Intimní skici“ („Klavierminiaturen – Heft I - Intime Skizzen“). Edition Moravia/Universal Edition UE 30191, Brno 1994, Hrsg. Jaromír Dlouhý und Reinhold Kubik
Abbildungen 1-4: Originalmanuskripte mit freundlicher Genehmigung des Janáček-Archivs, Abteilung für Musikgeschichte, Mährisches Landesmuseum, Brno
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